In den vergangenen Monaten habe ich unzählige Gespräche mit Kolleg:innen über den Einsatz von KI im Unterricht geführt. Fast immer kommt dabei irgendwann diese Frage in unterschiedlichen Abwandlungen gehört: „Wie gehen wir denn jetzt mit Aufgaben um, die ChatGPT in Sekunden lösen kann? “Wie soll ich denn KI zulassen, wenn Sie mein gesamtes Konzept in Frage stellt?“
Diese Frage ist absolut berechtigt, nachvollziehbar und führt zum Kern der Diskussion über KI und Aufgabenformatem, denn sie zielt mitten ins Zentrum schulischer Arbeit. Sie berührt nicht nur technische oder organisatorische Aspekte, sondern den Kern des bisherigen Verständnisses vieler Kolleg:innen von Lernen. Sie zwingt uns, darüber nachzudenken, was eine gute Aufgabe heute eigentlich leisten soll. Und sie fordert uns auf, den Mut zu haben, Aufgaben so zu verändern, dass sie trotz und mit KI nicht überflüssig, sondern weiterhin bedeutsam, wirksam und sinnhaft sind.
In der täglichen Schulpraxis dienen Aufgaben oft als Mittel zur Überprüfung von Wissen oder zum Üben festgelegter Verfahren. Sie sind das Rückgrat eines Großteils von Unterricht und doch werden sie selten selbst zum Thema pädagogischer Reflexion. Vor allem deshalb, da Schüler:innen immer noch selten an der Konzeption oder Reflektion von schulischen Aufgabenstellungen und Inhalten beteiligt sind.
Die Einführung generativer KI stellt diese als Selbstverständlichkeit angenommene Vorgehensweise nun in Frage. Plötzlich stehen wir vor der Tatsache, dass viele klassische Aufgabenformate wie Zusammenfassungen, Steckbriefe, Interpretationen etc. technisch lösbar geworden sind. Nicht, weil sie schlecht sind, sondern weil sie auf eine andere Lernlogik zielen: das reine Wiedergeben von Gelerntem, ohne dass eine über die reine Aufgabenstellung hinausgehende Reflektionsleistung gefragt ist.
Es wäre allerdings ein Schnellschuss, diese Aufgaben nun vollständig zu verwerfen. Denn sie trainieren grundlegende Fähigkeiten wie sprachliche Präzision, Strukturierung, Verständnis von Erarbeitetem und vieles mehr, die für jedes weiterführende Denken unverzichtbar sind. Es geht also nicht darum, sie zu ersetzen, sondern sie in einen neuen didaktischen Zusammenhang zu stellen. Weg vom reinen Reproduzieren, hin zum Reflektieren, Bewerten und Gestalten. Ohne „Skill Skipping”, aber mit verändertem Fokus.
Ich beobachte, dass KI uns zwingt, Lernprozesse neu zu rahmen. Früher stand im Zentrum die Frage: Was wissen Schüler:innen? Heute muss sie lauten: Was machen sie mit dem Wissen, das sie haben oder das ihnen mit Hilfe von KI zur Verfügung steht bzw. leicht zugänglich ist?
Diese Verschiebung verändert die Bedeutung der Aufgabe selbst. Sie wird vom Prüfstein zum Denkraum, nämlich einem Ort, an dem Lernende mit Inhalten in Beziehung treten, Hypothesen bilden, vergleichen, verwerfen und neu zusammensetzen.
Eine neue Aufgabenkultur stellt deshalb nicht die Kontrolle in den Vordergrund, sondern die Aktivierung. Sie zielt darauf ab, Lernende zu befähigen, sich mit den Möglichkeiten und Grenzen künstlicher Intelligenz auseinanderzusetzen und dabei gleichzeitig ihre fachlichen und metakognitiven Kompetenzen zu vertiefen, indem Sie KI als Lernpartner und Co-Konstrukteur nutzen können.
Ein Beispiel aus meiner Praxis: In einer achten Klasse Geschichte habe ich die Schüler:innen gebeten, KI zu nutzen, um zu skizzieren, welche Bedeutung die industrielle Revolution für die Entwicklung der europäischen Staaten hatte. Anschließend sollten sie die Antwort der KI bewerten.
Zunächst entstand Erstaunen, denn die KI formulierte flüssig, klar und weitgehend nachvollziehbar. Sie nannte die Verfügbarkeit von Kohle und Eisen, technische Innovationen und die Bedeutung der Schwerindustrie für die Weiterentwicklung der europäischen Staaten zu Industriestaaten. Doch im nächsten Schritt fiel auf, dass sie kaum auf kritische Aspekte wie soziale Fragen einging, zum Beispiel auf Kinderarbeit, Wohnverhältnisse der Arbeiter:innen oder die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die mit dem Industrialisierungsprozess einhergingen.
Genau hier konnte das eigene Lernen beginnen. Die Schüler:innen ergänzten, hinterfragten, suchten Belege und verbanden die technischen Entwicklungen mit wichtigen sozialen Folgen.
Diese Form der Aufgabe verschiebt den Fokus, nämlich weg vom reinen Produzieren eines Textes hin zur Auseinandersetzung mit Perspektiven, Qualität und Kontext. Die KI liefert den Anlass und das Denken übernahmen die Lernenden.
Besonders spannend sind Aufgaben, in denen KI zum kreativen Sparringspartner wird. Sie eröffnen Lernräume, in denen Sprache, Vorstellungskraft und Reflexion miteinander verschränkt werden. In einem Deutschunterricht haben Schüler:innen eigene Kurzgeschichten begonnen und von der KI mehrere alternative Enden formulieren lassen. Die Aufgabe bestand nun aber nicht darin, eine der KI-Versionen einfach zu übernehmen, sondern sie kritisch zu vergleichen. Welche Variante wirkt emotional stimmiger? Welche ist sprachlich präziser, welche logischer aufgebaut, welche gefällt mir besser? Und vor allem: Welches Ende erfüllt meine genannten Kriterien?
In den Diskussionen zeigte sich, dass sich die Schüler:innen über die Textqualität und die KI-Ergebnisse austauschten und vorher erlernte Kriterien in den Texten suchten und beurteilten. Sie erkannten, dass eine überzeugende Erzählung nicht nur durch Handlung, sondern durch Rhythmus, Perspektive und Stimmung entsteht. KI wurde zum Spiegel für die eigenen Entscheidungen: Wo endet Kreativität, wo beginnt Routine? Wann wirkt ein Text „rund”, wann künstlich?
Diese Form von Aufgabe stärkt ästhetisches Urteilsvermögen, Sprachbewusstsein und Selbstwirksamkeit zugleich. Lernende erfahren, dass die KI-Ideen liefern kann, aber die Qualität des Ergebnisses davon abhängt, welche Entscheidungen sie selbst treffen und nur durch sinnhafte und effektive Anweisungen entsteht.
So wird KI nicht zur Abkürzung, sondern zum Anlass, über Sprache, Wirkung und Intention nachzudenken. Sie hilft, das eigene Schreiben bewusster zu gestalten, und eröffnet zugleich den Blick auf den kreativen Prozess als etwas Gestaltbares und Reflexives.
Eine neue Aufgabenkultur verlangt von Lehrkräften eine veränderte Haltung. Wir müssen weniger als Aufgabensteller:innen denken und stärker als Lernarchitekt:innen.
Das bedeutet, Aufgaben nicht isoliert zu sehen, sondern als Teil eines didaktischen Systems:
Welche Kompetenzen stehen im Zentrum?
Welche Strategien oder Tools können Lernprozesse vertiefen?
Wie kann Reflexion sichtbar werden?
Welche Rolle kann KI spielen und welche nicht?
In dieser Rolle gestalten wir Lernumgebungen, in denen Schüler:innen Verantwortung übernehmen und KI als Ressource sinnvoll einbinden können.
In meiner Arbeit erlebe ich immer wieder, dass Aufgabenkultur nur dort wachsen kann, wo Raum für Erprobung und Vertrauen besteht.
Unser Motto zum Start in allen Entwicklungsbereichen lautet daher seit Jahren: „Jeder kann, keiner muss.”
Dieser Satz klingt banal, trägt aber einen entscheidenden Gedanken: Innovation braucht Freiwilligkeit. Lehrkräfte müssen die Möglichkeit haben, neue Aufgabenformate zu testen, zu verwerfen, zu überarbeiten und ohne Angst vor Scheitern oder Rechtfertigung. Natürlich folgt dieser Phase des Ausprobierens auch eine Verstetigung und eine Verbindlichkeit, aber eben erst nach einer gewissen Zeit.
Diese Kultur der Offenheit ist meiner Ansicht nach die Voraussetzung dafür, dass sich Unterricht effektiv und innovativ weiterentwickeln kann. KI ist hier nicht das Ziel, sondern der Anlass für gemeinsame Lernprozesse, auch auf Ebene der Lehrenden.
KI führt uns deutlich vor Augen, dass viele unserer Aufgaben nicht mehr zu den Bedingungen des heutigen Lernens passen. Aber sie zeigt auch, wie groß das Potenzial ist, wenn wir sie verändern.
Eine zeitgemäße Aufgabenkultur verbindet fachliches Lernen, Denken und Selbststeuerung. Sie hält am Erwerb grundlegender Fähigkeiten fest, ohne sie absolut zu setzen. Und sie nutzt KI als Spiegel, um die Qualität von Aufgaben, Lernprozessen und Haltungen neu zu betrachten.