Früherkennung in der Schule: Ein Blick auf Methoden, Warnsignale und digitale Unterstützung
In meiner Ausbildung zum Heilerziehungspfleger habe ich früh gelernt: Diagnostik beginnt nicht erst beim Arzt oder Psychologen. Sie beginnt schon dort, wo das Kind seinen Alltag verbringt – und das ist oft das Klassenzimmer. Heute blicke ich als Informatiker jedoch auch auf die technischen Möglichkeiten zur Entlastung: Wie können wir Lehrkräfte dabei unterstützen, komplexe Beobachtungsbögen und Screenings in einen vollen Schultag zu integrieren?
Lehrkräfte spielen eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, Muster zu erkennen, die auf Förderbedarf oder Verhaltensauffälligkeiten hindeuten. Eine frühzeitige Identifikation ermöglicht es, Unterstützung einzuleiten, bevor sich Probleme verfestigen. Dieser Artikel gibt einen Überblick über wissenschaftlich fundierte Methoden zur Früherkennung und zeigt auf, wie wir bei Kipti versuchen, diesen Prozess digital zu erleichtern.
1. Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS): Mehr als nur langsames Lesen
Nicht jede Schwierigkeit beim Lesen ist eine LRS. Die Forschung zeigt jedoch klare Indikatoren, die sich oft schon früh zeigen.
Warnsignale: Ein zentraler Hinweis in den ersten Klassen ist, wenn Kinder Buchstaben unsicher benennen oder Laute beim Lesen nicht verschleifen können (“M-A-U-S” statt “Maus”). Später fallen häufiges Raten von Wörtern oder eine hohe Fehlerzahl trotz Übens auf.
Diagnostische Instrumente: Die S3-Leitlinie zur Diagnostik von Lese-/Rechtschreibstörungen empfiehlt evidenzbasierte Verfahren. Dazu gehören etablierte Screenings wie das Bielefelder Screening (BISC) für den Vorschulbereich oder der Salzburger Lese-Rechtschreib-Test (SLRT-II) zur Lernstandserhebung.
Digitale Entwicklung: Inzwischen gibt es auch digitale Klassenscreenings, die eine ökonomische Testung ganzer Klassen ermöglichen. Ein aktuelles Beispiel ist das Testsystem Dysmate (verfügbar für Grundschule und seit 2025 auch als Dysmate-Y für die Sekundarstufe I). Studien zeigen, dass solche Tools helfen können, verborgene Probleme auch bei älteren Schülerinnen und Schülern zuverlässig zu identifizieren.
2. Rechenschwäche (Dyskalkulie): Wenn das Mengenverständnis fehlt
Bei einer Rechenschwäche fehlen oft basale Grundlagen, die durch bloßes Üben von Rechenwegen nicht kompensiert werden können.
Warnsignale: Ein starkes Indiz in der 1. und 2. Klasse ist, wenn das Fingerzählen nicht überwunden wird oder das Kind Mengenrelationen (z. B. “Ist 5 mehr als 3?”) nicht spontan erfassen kann. Auch das mechanische Zählen ohne Verständnis für das Dezimalsystem ist ein typisches Warnsignal.
Diagnostische Instrumente: Für Lehrkräfte wurde der Fragebogen zur Erfassung mathematischer Fertigkeiten (FERMAT) entwickelt. Untersuchungen der TU Dortmund zeigen, dass dieses Instrument Risikokinder im Klassenverband mit einer hohen Zuverlässigkeit (Sensitivität ca. 58–70 %) identifizieren kann.
3. Verhaltensauffälligkeiten: ADHS und emotionale Entwicklung
Die Abgrenzung zwischen “lebhaftem Verhalten” und einer Diagnose wie ADHS ist im Unterricht oft schwierig. Wissenschaftliche Leitlinien betonen hier die Notwendigkeit einer multimodalen Diagnostik, die immer verschiedene Perspektiven (Eltern, Schule, Kind) einbeziehen muss.
ADHS-Indikatoren: Entscheidend für die Abgrenzung ist, dass Symptome wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität und motorische Unruhe situationsübergreifend und überdauernd auftreten. Standardisierte Lehrer-Fragebögen (z. B. aus dem DISYPS-System) helfen, subjektive Eindrücke zu objektivieren.
Soziale & emotionale Auffälligkeiten: Hierbei haben sich Screening-Fragebögen wie der Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ) bewährt. Er ist international anerkannt (genutzt z. B. im Deutschen Schulbarometer), um emotionale Probleme, aber auch prosoziales Verhalten einzuschätzen.
Autismus-Spektrum: Subtile Hinweise können Schwierigkeiten bei der sozialen Interaktion, fehlender Blickkontakt oder stereotype Interessen sein. Screening-Bögen wie der Fragebogen zur sozialen Kommunikation (FSK) können Lehrkräften und Eltern erste Anhaltspunkte liefern, um eine fachärztliche Diagnostik anzustoßen.
4. Die Herausforderung im Schulalltag: Systematische Beobachtung
Die Wissenschaft ist sich einig: Eine valide Einschätzung benötigt mehr als eine Momentaufnahme. Es braucht eine systematische Verhaltensbeobachtung über mehrere Wochen. Nur so lassen sich “schlechte Tage” von echten Entwicklungsmustern unterscheiden.
In der Praxis scheitert dies oft nicht am Wissen der Lehrkräfte, sondern an der Zeit für die Dokumentation. Zettelwirtschaft und Gedächtnisprotokolle sind im hektischen Schulalltag fehleranfällig. Wenn Auffälligkeiten dokumentiert werden, geschieht dies oft erst, wenn das “Kind schon in den Brunnen gefallen ist”.
Wie wir mit Kipti unterstützen
Da wir bei Kipti sowohl die pädagogische Perspektive (durch Lehrer und Schulleiter im Team) als auch die technische Seite kennen, haben wir unsere App genau für diese Schnittstelle entwickelt.
Kipti ist kein Diagnosetool, das den Experten ersetzt. Aber es ist das Werkzeug, das die notwendige Datenbasis schafft:
Muster erkennen: Kipti erleichtert die kontinuierliche Dokumentation von Beobachtungen im Unterricht. Statt loser Notizen entsteht ein Verlauf, der Veränderungen sichtbar macht.
Fundierte Zusammenarbeit: Wenn multiprofessionelle Teams (Sonderpädagogen, Schulpsychologen) hinzugezogen werden – ein Ansatz, der aktuell auch durch das Startchancen-Programm gefördert wird –, liefert Kipti die dokumentierte Grundlage für diese Gespräche.
Entlastung: Das Ziel ist es, den administrativen Aufwand so gering zu halten, dass wieder mehr Zeit für die pädagogische Arbeit und die individuelle Förderung bleibt.
Früherkennung erfordert einen geschulten Blick und Ausdauer. Mit den richtigen wissenschaftlichen Methoden und einer effizienten Dokumentation können wir sicherstellen, dass Schülerinnen und Schüler die Unterstützung erhalten, die sie benötigen.
Quellen und weiterführende Literatur
Dieser Artikel basiert auf aktuellen Leitlinien und Forschungsergebnissen zur schulischen Diagnostik:
LRS-Leitlinien: AWMF S3-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung der Lese-/Rechtschreibstörung“ (Registernummer 028-044).
ADHS-Diagnostik: Döpfner et al.: Diagnostik-System für psychische Störungen (DISYPS-III) & ADHS-Diagnostikum für Kinder und Jugendliche (ADHS-KJ).
Dyskalkulie-Screening: Kuhn, J.-T. et al.: Entwicklung eines Lehrkräftefragebogens zur Früherkennung von Rechenstörungen (FERMAT), TU Dortmund.
Digitale Diagnostik: Larsen, L. et al.: Dysmate-Y – Digitales Klassenscreening (2025) & Dysmate-C.
Sozial-Emotionale Entwicklung: Goodman, R.: Strengths and Difficulties Questionnaire (SDQ); sowie Ergebnisse des Deutschen Schulbarometers.
Autismus-Screening: Bölte, S. et al.: Fragebogen zur Sozialen Kommunikation (FSK).
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