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Bildung

Von Einzelkämpfern zu Teams – warum Zusammenarbeit in Schulen der Schlüssel ist

Björn Schriewer
#Teamarbeit#Schule#Multiprofessionelle Teams#Wissensmanagement#Zusammenarbeit
Teamarbeit und Zusammenarbeit in Schulen: multiprofessionelles Team

Von Einzelkämpfern zu Teams – warum Zusammenarbeit in Schulen der Schlüssel ist

Leon hat Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen. Die Mathelehrerin beobachtet, dass er sich nicht konzentrieren kann. Der Ganztagsbetreuer sieht seine Kreativität beim freien Spiel. Die Schulsozialarbeiterin kennt die familiäre Situation. Drei Perspektiven auf dasselbe Kind – aber die Informationen bleiben in den Köpfen der jeweiligen Personen stecken. Keiner hat das vollständige Bild.

Das ist kein Einzelfall. In vielen Schulen arbeiten Fachkräfte nebeneinander her statt miteinander. Dabei zeigt sich immer deutlicher: Die Herausforderungen im Schulalltag – heterogene Klassen, Inklusion, Ganztagsbetrieb – sind für Einzelkämpfer kaum noch zu bewältigen. Studien belegen, dass die Anforderungen im Schulsystem die Kapazitäten einzelner Lehrkräfte längst übersteigen.

Die Lösung? Echte Teamarbeit. Nicht das, was oft als Teamarbeit bezeichnet wird – schneller Austausch zwischen Tür und Angel –, sondern strukturierte Zusammenarbeit, bei der verschiedene Professionen ihr Wissen zusammenbringen.

Warum Deutschland beim Thema Teamarbeit Nachholbedarf hat

Kooperation hat im deutschen Bildungssystem nur wenig Tradition. Während international erfolgreiche Schulsysteme seit Jahren auf strukturierte Zusammenarbeit setzen, arbeiten viele deutsche Lehrkräfte nach wie vor weitgehend isoliert. Ein systematisches Wissensmanagement im Kollegium? Fehlanzeige.

Das Problem: Wissen verschwindet. Erfolgreiche Unterrichtskonzepte, clevere Lösungen für Verhaltensprobleme, bewährte Materialien – all das bleibt im Klassenzimmer, statt dem gesamten Kollegium zur Verfügung zu stehen. Jeder erfindet das Rad neu, anstatt von den Erfahrungen anderer zu profitieren.

Dabei zeigen Forschungen eindeutig: Schulen, in denen Lehrkräfte systematisch voneinander lernen und gemeinsam an Verbesserungen arbeiten, sind erfolgreicher. Sowohl die Unterrichtsqualität als auch die Zufriedenheit im Lehrerberuf steigen. Das ist keine weiche Kuschelpädagogik, sondern ein harter Erfolgsfaktor.

Multiprofessionelle Teams: Wenn verschiedene Expertisen zusammenkommen

Besonders spannend wird es, wenn nicht nur Lehrkräfte untereinander kooperieren, sondern verschiedene Professionen zusammenarbeiten: Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter:innen, Sonderpädagog:innen, Schulpsycholog:innen. Diese multiprofessionellen Teams gelten als entscheidend für Inklusion und Ganztag.

Die Idee ist einleuchtend: Jede Profession bringt ihre spezielle Expertise ein. Lehrkräfte kennen den fachlichen Unterricht, Sonderpädagog:innen die individuelle Förderung, Sozialarbeiter:innen die familiären Hintergründe. Durch Kooperation entsteht ein vollständigeres Bild.

In der Praxis zeigt sich: Es funktioniert tatsächlich. Eine aktuelle Studie mit 222 Grundschullehrkräften belegt, dass multiprofessionelle Kooperation zu höherer Arbeitszufriedenheit und Entlastung führt. Nicht nur Schüler:innen profitieren, sondern auch die Lehrkräfte selbst. Der Austausch regt zur Reflexion an und führt zu gegenseitigem Lernen.

Die Herausforderungen

Aber: Multiprofessionelle Teamarbeit ist kein Selbstläufer. Es gibt strukturelle Hürden, die nicht ignoriert werden können.

Problem 1: Zeit

Ohne feste Zeitfenster für Teamsitzungen scheitert Kooperation meist schon im Ansatz. Erfolgreiche Schulen planen wöchentliche Teamtreffen fest ein – nicht als “nice to have”, sondern als fixer Bestandteil des Stundenplans.

Problem 2: Unklare Rollen

Wenn nicht klar ist, wer für was zuständig ist, entstehen Reibungen. Soll die Sonderpädagogin oder die Schulsozialarbeiterin sich um das Kind mit sozial-emotionalem Förderbedarf kümmern? Solche Fragen müssen vorab geklärt werden, sonst kommt es zu Doppelarbeit oder Lücken.

Problem 3: Hierarchien

Hier wird es heikel. Historisch wurden Schulen als “monoprofessionelles System” betrachtet, in dem Lehrkräfte den Ton angeben. Andere Berufsgruppen wurden oft nur als Unterstützung gesehen. Das Problem: Lehrkräfte sind meist fest angestellt und höher bezahlt, weiteres Personal oft befristet und geringer vergütet. Diese strukturellen Unterschiede verstärken Hierarchien und gefährden die Arbeit “auf Augenhöhe”.

Dazu kommt: Lehrkräfte sahen Teamarbeit über Berufsgrenzen hinweg lange nicht als Teil ihres Kernauftrags. Sozialpädagog:innen hingegen begreifen multiprofessionelle Zusammenarbeit als integralen Bestandteil ihrer Arbeit. Diese unterschiedlichen Haltungen führen zu Spannungen.

Problem 4: Anfangsinvestition

Der Aufbau guter Kooperation erfordert zunächst Zusatzaufwand – Zeit für gemeinsames Verständnis, für Kommunikation, für Vertrauensaufbau. Aber: Diese Investition lohnt sich. Sobald klare Strukturen etabliert sind, wird die gemeinsame Arbeit sogar zur Entlastung.

Was Schulen von der Wirtschaft lernen können (und was nicht)

Als Informatiker denke ich oft: Vieles von dem, was in der Wirtschaft zu effektiver Teamarbeit geforscht wurde, könnte auch Schulen helfen. Natürlich sind Schulen keine Unternehmen. Aber einige Erfolgsfaktoren für Teams sind branchenunabhängig.

Gemeinsame Vision und Ziele

Erfolgreiche Teams haben ein klares, geteiltes Ziel. In der Softwareentwicklung ist es das Produkt, das wir bauen. In der Schule könnte es die Verbesserung der Lesekompetenz oder die Umsetzung eines inklusiven Konzepts sein. Dieses gemeinsame Ziel schafft Ausrichtung und Kohäsion.

Psychologische Sicherheit

Google hat in seiner berühmten Projekt-Aristoteles-Studie herausgefunden: Der wichtigste Erfolgsfaktor für Teams ist psychologische Sicherheit. Teams, in denen Mitglieder Fehler eingestehen und Fragen stellen dürfen, ohne negative Konsequenzen zu befürchten, sind produktiver und innovativer.

Das gilt auch für Schulen. Wenn im Lehrerzimmer niemand Angst hat, als unfähig zu gelten, nur weil er um Rat fragt, dann wird Wissen freier geteilt. Man unterstützt sich gegenseitig und entwickelt gemeinsam neue Ideen. Studien zeigen, dass psychologische Sicherheit messbare Auswirkungen auf Engagement, Fehlzeiten und Kreativität hat.

Offene Kommunikation

In Softwareteams nutzen wir Tools wie Slack, Notion oder Confluence, um Informationen zu teilen und zu dokumentieren. Nicht alles davon passt 1:1 auf Schulen, aber der Grundgedanke schon: Wissen muss fließen. Schon viele erfolgreiche Schulen etablieren Strukturen für einen regelmäßigen Austausch – sei es durch wöchentliche Meetings, digitale Plattformen oder gemeinsame Materialpools.

Wissensmanagement als strategische Ressource

In der Wirtschaft wird Wissen strategisch gemanagt – Wissensdatenbanken, Dokumentationen, Mentoring-Programme. In Schulen passiert Wissensaustausch oft informell und zufällig. Das ist verschenktes Potenzial. Bewährte Unterrichtsideen, Lösungen für Disziplinprobleme, erfolgreiche Projekte – all das könnte systematisch gesammelt und neuen Kolleg:innen strukturiert zur Verfügung gestellt werden.

Leadership-Unterstützung

In Unternehmen steht und fällt Teamarbeit mit der Unterstützung durch das Management. Führungskräfte stellen Ressourcen bereit, entfernen Hindernisse und würdigen Teamleistungen. Dasselbe gilt für Schulen: Die Schulleitung muss Teamarbeit zur Priorität machen – durch Stundenplanregelungen, Fortbildungen und Anerkennung erfolgreicher Kooperation.

Vom Austausch zur Ko-Konstruktion

Nicht alle Zusammenarbeit ist gleich. Es gibt verschiedene Stufen der Kooperation:

Stufe 1: Austausch

Die Grundstufe. Lehrkräfte teilen Erfahrungen, Materialien, Tipps. “Wie gehst du mit Störungen im Unterricht um?” Klingt banal, aber schon einfacher Austausch senkt die wahrgenommene Arbeitsbelastung, weil man sich verstanden fühlt.

Stufe 2: Arbeitsteilige Kooperation

Gemeinsame Planung, Aufgabenteilung bei Projekten. “Du übernimmst die Gruppenarbeit, ich die Präsentation.” Effizienter als Einzelarbeit, aber noch keine echte Synergie.

Stufe 3: Ko-Konstruktion

Die höchste Stufe. Lehrkräfte entwickeln gemeinsam neue Unterrichtskonzepte oder Lösungen. Das erfordert das höchste Maß an Vertrauen und Verpflichtung auf gemeinsame Ziele, entfaltet aber auch die größten Synergieeffekte.

Jede Stufe hat ihren Wert. Wichtig ist: Man muss nicht sofort bei Stufe 3 starten. Aber man sollte wissen, wohin die Reise gehen kann.

Was die Forschung zeigt: Internationale Vorbilder

Es lohnt sich, über den deutschen Tellerrand zu schauen. In Japan gibt es “Lesson Study” – Lehrkräfte planen gemeinsam Unterricht, beobachten sich gegenseitig beim Unterrichten und werten aus. In Kanada arbeiten Schulen mit “Spirals of Inquiry” – systematische, datenbasierte Unterrichtsentwicklung im Team.

Bildungsforscherinnen wie Anne Sliwka und Britta Klopsch heben hervor, dass solche ko-konstruktiven Ansätze wertvolle Impulse für Deutschland liefern können. Die Grundidee ist immer gleich: Lehrer:innen lernen miteinander und reflektieren kontinuierlich ihre Praxis, um bessere Lernangebote zu schaffen.

Die größte Frage: Integration in den Alltag

Die größte Frage bei der Einführung neuer Arbeitsweisen ist oft nicht die technische Umsetzbarkeit, sondern die Integration: Wie kann Teamarbeit so in den Schulalltag eingebettet werden, dass sie nicht als zusätzliche Belastung empfunden wird?

Hier einige praktische Ansätze:

1. Feste Teamzeiten im Stundenplan

Regelmäßige Meetings auf Klassenstufenebene, und erweiterte Treffen mit allen Professionen.

2. Klare Rollen und Zuständigkeiten

Zu Beginn klären: Wer macht was? Wer bringt welche Expertise ein? Orientiert an Stärken, nicht an Titeln.

3. Digitale Tools für Wissensaustausch

Ein zentraler Ort, an dem Beobachtungen, Materialien und Ideen gesammelt werden. Durchsuchbar, zugänglich, nicht auf hundert Zettel verteilt.

4. Kultur der Offenheit etablieren

Fehler sind Lerngelegenheiten, keine Schwächen. Fragen stellen ist professionell, nicht peinlich. Diese Kultur muss von der Schulleitung vorgelebt werden.

5. Evaluation und Anpassung

Regelmäßig reflektieren: Was läuft gut? Wo hakt es? Teams entwickeln sich dynamisch. Was heute funktioniert, muss in sechs Monaten vielleicht angepasst werden.

Die Rolle von digitalen Tools

Wenn Teamarbeit funktionieren soll, braucht es Strukturen für den Wissensaustausch. Nicht alle Informationen müssen in Meetings besprochen werden. Manche sollten einfach dokumentiert und auffindbar sein.

Ein Beispiel: Die Beobachtung über Leon. Die Mathelehrerin notiert: “Leon kann sich heute nicht konzentrieren, wirkt müde.” Der Ganztagsbetreuer fügt hinzu: “Leon war heute beim Bauen auffällig gereizt, hat sein ganzes Konstrukt einfach umgeworfen.” Die Schulsozialarbeiterin ergänzt: “Gespräch mit der Mutter – Leon schläft momentan schlecht.”

Plötzlich ergibt sich ein Bild. Nicht durch ein langes Meeting, sondern durch strukturierte Dokumentation, die allen Beteiligten zur Verfügung steht. Genau dafür haben wir Kipti entwickelt – um Wissen nicht verschwinden zu lassen und multiprofessionelle Teams zu unterstützen.

Fazit: Vom Einzelkämpfer zum Team

Teamarbeit in Schulen ist kein “nice to have” mehr, sondern eine Notwendigkeit. Die Herausforderungen sind zu komplex für isoliert arbeitende Lehrkräfte. Multiprofessionelle Teams und echte Kooperation im Kollegium sind der Schlüssel zu besserer Bildung.

Die gute Nachricht: Es funktioniert. Schulen, die Teamarbeit ernst nehmen, berichten von spürbaren Entlastungen und Qualitätsgewinnen. Die schlechte Nachricht: Es passiert nicht von allein. Es braucht strukturelle Veränderungen, Zeitressourcen und eine Kultur des Vertrauens.

Aber die Arbeit lohnt sich. Für die Lehrkräfte, die nicht mehr allein kämpfen müssen. Für die Schule, die sich weiterentwickelt. Und vor allem für die Schüler:innen, die davon am meisten profitieren: Sie erleben eine konsistente, unterstützende Lernumgebung, in der die Erwachsenen an einem Strang ziehen.

Leon wird es danken.


Quellen

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